Der inhaftierte Alaa Abdel Fattah hat zu Beginn der Weltklimakonferenz seinen Hungerstreik auf das Trinken ausgeweitet. Seine Schwester mobilisiert in Sharm El-Sheikh
Der Uno-Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk, sieht die Lage etwas anders, viel dramatischer, als der ägyptische Außenminister Sameh Shoukry: Türk forderte am Dienstag die ägyptischen Behörden dringend auf, den Aktivisten Alaa Abdel Fattah sofort aus der Haft zu entlassen und ihm die nötige medizinische Behandlung zukommen zu lassen. Shoukry, der momentan auch als Präsident der Weltklimakonferenz COP 27 in Sharm El-Sheikh fungiert, hatte in einem Interview festgehalten, dass im Fall Abdel Fattah die Gefängnisverwaltung für medizinische Maßnahmen zuständig sei – woraus manche Beobachter einen Hinweis auf Zwangsernährung ableiteten.
Shoukry fügte hinzu, dass frühere Hungerstreiks Abdel Fattahs nicht ganz so ernst wie behauptet gewesen seien, was ihm von der Familie und von Menschenrechtsaktivisten als blanker Zynismus ausgelegt wurde.
Der Blogger und Softwareentwickler, der im Ausland als politischer Gefangener gilt und nach mehreren Stationen nunmehr im Gefängnis von Wadi El Natrun in Nordägypten inhaftiert ist, verweigert nicht nur feste Nahrung, sondern seit Beginn der COP 27 auch Flüssigkeit. Laut Amnesty International ist er akut vom Tod bedroht.
Einstige Revolutionsjugend
Abdel Fattah ist das prominenteste jener Mitglieder der ägyptischen Revolutionsjugend von 2011, die bald nach dem Umsturz, aber besonders nach der Rückkehr der Militärs an die Macht 2013 Probleme mit der Justiz bekamen: Sie kritisierten die Repression danach, auch wenn sie keine Muslimbrüder sind, gegen die sich der damalige – von einer breiten zivilgesellschaftlichen Bewegung unterstützte – Sturz von Präsident Mohammed Morsi vor allem richtete.
2015 wurde Alaa Abdel Fattah zum ersten Mal von einem Militärgerichtshof zu fünf Jahren Haft verurteilt, im März 2019 freigelassen und im September desselben Jahres wieder verhaftet. Nach zwei Jahren in Untersuchungshaft wurde er im Dezember 2021 erneut zu fünf Jahren verurteilt, wegen der Verbreitung falscher Nachrichten. Sein Anwalt, Mohammed al-Baqer, wurde gleich mit ihm verurteilt. Im April 2022 begann Alaa Abdel Fattah aus Protest gegen seine Isolationshaft die Nahrung zu reduzieren. Und vor wenigen Tagen kam der drastische Schritt.
Britischer Bürger
Die Familie des in wenigen Tagen 41-Jährigen hofft darauf, dass die Anwesenheit des britischen Premiers Rishi Sunak bei der COP 27 etwas bewegen würde: Die britische Regierung verlieh Alaa Abdel Fattah – ebenso wie dessen Schwestern Mona und Sanaa Seif – im April 2022 die Staatsbürgerschaft. Ihre Mutter Laila Soueif wurde 1956 in London geboren und hat einen britischen Pass. Zwar wurde von britischer Seite versichert, dass Sunak den Fall bei seinen Gesprächen in Ägypten ansprechen werde, auf diesbezügliche Journalistenfragen wollte er jedoch am Montag nicht antworten. Der ägyptische Außenminister hingegen sagte auf Anfrage, dass die Behörden noch nicht entschieden hätten, ob sie die britische Staatsbürgerschaft Abdel Fattahs anerkennen würden: Das heißt, im zumindest im Moment erkennt sie sie nicht an.
Der Auftritt seiner Schwester, Sanaa Seif in Sharm El-Sheikh war am Dienstag der am meisten beachtet Event, sehr zum Ärger der ägyptischen Behörden. Ein Abgeordneter des ägyptischen Parlaments attackierte Seif verbal, er wurde von der Konferenz-Security entfernt. Sanaa war im deutschen Pavillon zu Gast: Bundeskanzler Olaf Scholz sprach sich, wie die Uno, ebenfalls für die Freilassung Alaa Abdel Fattahs aus.
Warnung vor Destabilisierung
Auf Interventionsversuchen aus dem Ausland, besonders aus Europa, pflegen ägyptische Offizielle mit einer Warnung vor einer drohenden Destabilisierung Ägyptens – von wo danach Flüchtlingsmassen die EU überschwemmen würden – zu antworten. Das wird auch durchaus ernst genommen, Ägypten hat mehr als 100 Millionen Einwohner, viele davon bitter arm und von den Lebensmittel- und Energieteuerungen durch den Ukraine-Krieg besonders betroffen. Wieder einmal ist man bei der Frage angekommen, ob ein autoritäres Regime die Unruhe im Griff halten kann oder sie letztlich noch verstärkt.
Türk rief den ägyptischen Präsidenten auf, wie schon in anderen Fällen von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen. Tatsächlich waren in den vergangenen Monaten vermehrt verurteilte Aktivisten und Aktivistinnen – und solche, die die ägyptischen Behörden dazu erklärten, darunter auch ägyptische Studenten im Ausland wie der in Wien an der Central European University (CEU) studierende Ahmed Samir Santawy – freigekommen. Das wurde als Versuch gewertet, das schlechte Image des ägyptischen Regimes von Präsident Abdel Fattah al-Sisi vor der Weltklimakonferenz aufzubessern.
Alaa Abdel Fattah hat sozusagen den Protest im Blut: Sein Vater war der 2014 verstorbene Menschenrechtsanwalt Ahmed Seif, seine Mutter Laila, eine Mathematikprofessorin, ist ebenso aktiv wie die beiden Schwestern Mona und Sanaa. Als die drei im Juni 2020 vor dem Tora-Gefängnis auf eine Nachricht Alaas warteten, wurden sie von einem organisierten Frauenmob attackiert. Nachdem sie den Vorfall zur Anzeige brachten, wurde die jüngere, Sanaa (28), verhaftet.
Volker Türk, der im Sommer das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte von der Chilenin Michelle Bachelet übernommen hat, sprach in seinem Statement die Situation der Menschenrechte in Ägypten im Allgemeinen an und rief zur Freilassung "aller willkürlich Festgehaltenen und unfair Verurteilten" auf: "Niemand sollte festgehalten werden, weil er seine Menschenrechte ausübt oder jene von anderen verteidigt." Laut Sisi-Regime gibt es keine solchen Häftlinge in Ägypten. (Gudrun Harrer, 9.11.2022)